Direkt zum Inhalt wechseln

Von Esteban Waid

Die dritte Mannschaft des VfB Villingen

Fußballverrückt und fern der Heimat

| Etwas ist ungewöhnlich auf dem Fußballplatz des VfB Villingen – zumindest für Außenstehende. Es ist Montag, wie fast jeden Tag wird um diese Jahreszeit abends bei Flutlicht trainiert. Nebelschwaden hängen über dem Villinger Friedengrund. Aus der Dunkelheit sind Rufe und Kommandos zu hören, doch zu verstehen sind sie nicht. 20 Spieler trainieren auf einer Hälfte des Platzes. Die Besonderheit? Alle sind Ukrainer und bilden seit zwei Jahren die 3. Mannschaft des Bezirksligisten VfB Villingen.

Simon Berthomier, Vorstandsmitglied, sitzt im Vereinsheim und schaut auf dem Handy nach: «28 Spieler sind es auf dem Papier», sagt er. Für eine Mannschaft in der Kreisliga C durchaus bemerkenswert. Meist haben Teams in der untersten Liga eher Personalprobleme.


Voller Tatendrang

Angefangen hat es im Winter 2022. «Sie haben uns kontaktiert. Die Idee war zunächst, dass sie einen eigenen Verein gründen und unsere Anlage nutzen wollten», erinnert sich Sportkoordinator Stefan Drzyzga. Doch der Verein hatte eine andere Idee. Warum einen eigenen Verein gründen, wenn man einfach eine neue Mannschaft melden kann, die Teil des Vereins ist? Die ukrainischen Männer waren sofort dabei. «Sie haben direkt gefragt, wann es losgeht», erzählt Drzyzga. Zunächst musste sich die neue Mannschaft aber in Geduld üben. Bis zum Saisonstart 2023 war es noch ein halbes Jahr. «Sie haben bis dahin selbstständig Freundschaftsspiele organisiert», sagt Drzyzga.

Diese ukrainischen Kicker sind voller Tatendrang und vor allem fußballverrückt. «Fußball ist der Hauptsport in der Ukraine, jeder spielt dort», erklärt Yevhen Radchenko. Er ist 32 Jahre alt und der Kapitän der Mannschaft. Er trägt einen Trainingsanzug des Proficlubs Dynamo Kiew, der Stadt, aus der er kommt. Am liebsten würden er und seine Mannschaftskollegen jeden Tag trainieren. «Wir mussten sie am Anfang ein bisschen einbremsen», wirft Drzyzga ein und muss lachen. Müssten nicht auch andere Mannschaften oder der benachbarte Hockeyverein auf dem Platz trainieren, die Ukrainer wären wohl jeden Tag da, auch samstags und sonntags. «Es ist besser, als zu Hause herumzusitzen», erklärt Radchenko. Daher kommt das Wort «Winterpause» im Sprachgebrauch der ukra­inischen Kicker auch nicht vor. Im vergangenen Jahr haben sie den Schnee vom Kunstrasenplatz geschippt, um darauf trainieren zu können. «Das war unser Aufwärm-Programm», sagt der Kapitän und lacht. Die Bezirksligaspieler pausierten, die 3. Mannschaft tobte sich im Schnee aus – auch das ist einzigartig.

Aber wer sind diese fußballverrückten Ukrainer? «Sie sind alle sehr unterschiedlich und sie kommen von überall aus der Ukraine», erklärt Radchenko. Der jüngste Spieler sei gerade einmal 18 Jahre alt, der älteste ist der 63-jährige Vasil, den sie im Verein liebevoll Opa nennen. Fast alle von ihnen flohen aus ihrem Heimatland, nachdem das russische Militär das osteuropäische Land Ende Februar 2022 überfallen hatte. Anders Radchenko. Der 32-Jährige ist Softwareingenieur und kam schon vor dem Krieg nach Deutschland. In sehr gutem Englisch erzählt er gern von seinem neuen Verein. Doch wenn es um den Krieg in seiner Heimat geht, dann werden seine Antworten kürzer. Trainer Oleksandr Hubriienko sitzt neben ihm, er kommt aus der Stadt Saporischschja, einem immer noch sehr stark umkämpften Gebiet. Einige kommen aus Donezk. Jeder habe einen berechtigten Grund gehabt, das Heimatland zu verlassen, erklären die Fußballer in Villingen. Viele sind mit ihren Familien nach Deutschland gekommen, haben dennoch Angehörige zurückgelassen.


Einzigartig in Deutschland

Männer zwischen 18 und 60 Jahren dürfen die Ukraine eigentlich nicht verlassen. Es sei denn, sie sind vom Wehrdienst befreit wegen einer Behin­derung, eines Studiums oder weil sie Väter kinder­reicher Familien sind oder in systemrelevanten Berufen arbeiten. Tatsächlich halten sich laut Angaben des Bundesinnenministeriums zurzeit (Stichtag 30. Juni) 268 176 ukrainische Männer im wehrfähigen Alter in Deutschland auf.

Vieles bleibt ungesagt an diesem Abend, nicht nur wegen der Verständigungsprobleme. Denn die gemeinsame Zeit auf dem Sportplatz ist auch eine Auszeit vom Krieg und soll es bleiben. «Das ist wichtig für unsere mentale Gesundheit», macht Radchenko klar. So wichtig, dass manche sogar aus Freudenstadt oder Balingen angefahren kommen, um zu spielen oder zu trainieren – teilweise über 80 km für einen Weg. Einzigartig sei diese Mannschaft: «Ich glaube nicht, dass es so etwas noch einmal in Deutschland gibt», sagt Radchenko. Man sei schon stolz darauf, zumal das Projekt für Verein und Ukrainer gleichermaßen ein Gewinn sei. Die 3. Mannschaft sei eine eigene Gemeinschaft, aber dennoch auch Teil des Vereins und in diesem längst etabliert.

Gemeinsame Feste gehören längst zum Vereins­leben, nach Spielen wird zusammengesessen mit dem Gegner, dann sind meist auch die Familien dabei. So wie es in der Kreisliga eben üblich ist. Schon öfter durften außerdem Spieler in der 2. Mannschaft aushelfen und umgekehrt. Bei der 1. Mannschaft in der Bezirksliga könnte es ebenso bald zu einem ukrainischen Debüt kommen. Auch dafür lernen die ukrainischen Kicker eifrig Deutsch und sind ein Beispiel für Integration.

In ihrer ersten Spielzeit konnte die ukrainische Mannschaft des VfB Villingen gleich die Meisterschaft feiern. «Es war speziell, in der Debüt-Saison den Titel zu holen. Wir wurden von Spiel zu Spiel besser», erinnert sich Radchenko. Und auch jetzt steht das Team nach der Hinrunde mit sechs Siegen aus sechs Spielen auf Platz eins. Der Erfolg sei aber gar nicht so wichtig: «Wir haben kein Team aufgebaut, sondern eine Familie!» Und die trifft sich bei Wind und Wetter, Regen und Schnee – so oft es geht eben. Fern der Heimat, fern vom Krieg – im Villinger Friedengrund. | Esteban Waid, «Südkurier», Konstanz