Von Jürgen Rössler
Die Kapitänsregel
Weniger Theater, mehr Klartext
von Jürgen Rössler | Szenen, in denen Spieler den Schiedsrichter bedrängen, um über eine Entscheidung zu diskutieren, gehören zum Bild des Fußballs. Leider. «Dieses Verhalten zeugt von mangelndem Respekt gegenüber den Schiedsrichtern, schadet dem Ansehen des Fußballs und kann einschüchternd oder verstörend sein», heißt
es in einer Stellungnahme des International Football Association Board (IFAB). Daher hat die UEFA zur Europameisterschaft 2024 die Kapitänsregel eingeführt, die vorsieht, dass nur noch der Kapitän in strittigen Situationen den Dialog mit dem Schiedsrichter suchen darf.
Die Erfahrungen mit der neuen Herangehensweise bei der Euro 2024 waren so positiv, dass DFB, DFL und DFB Schiri beschlossen, die Kapitänsregel zu Beginn der Saison 2024/25 auch im gesamten deutschen Fußball anzuwenden. Wie aber sehen die Erfahrungen nach einer Spielzeit aus? Ronny Zimmermann, als DFB-Vizepräsident für die Bereiche Schiedsrichter und Amateure verantwortlich, war überzeugt davon, dass diese Neuerung Sinn macht. Denn er erwartete schon vor der Spielzeit schnellere Spielfortsetzungen und einen erheblich respektvolleren Umgang miteinander, um nur zwei Aspekte zu nennen. «Eine tolle Sache, die hervorragend zu unserer Linie der vergangenen Jahre passt. Ich hoffe auf sehr viele positive Effekte, insbesondere im Amateurfußball», erklärte Zimmermann damals. Doch sieht er die Erwartungen nun als erfüllt? «Es ist ruhiger geworden!», hat er beobachtet und Gespräche mit Schiedsrichtern haben seine Hoffnungen bestätigt. «Es wurde in der Kommunikation besser, aber wir müssen noch die genaue Analyse abwarten», so der DFB-Vize. Allerdings hat man mancherorts im Amateurfußball den Eindruck, dass der Effekt der neuen Regel schon wieder verpufft, dass der Ton auf den Fußballplätzen wieder vergleichbar ist mit dem vor der Einführung der Kapitänsregel. Hier stehen laut Zimmermann die Profi-Ligen im Blickpunkt, denn das seien die Vorbilder, die nach unten wirken müssen.
Konsequentere Anwendung der Regel
«Im Grunde finde ich diese Regelung sinnvoll, ich habe aber das Gefühl, dass hier die Nachhaltigkeit fehlt», stellt etwa Steffen Kautzmann, Trainer des südbadischen Landesligisten FC Radolfzell, fest und er konkretisiert: «Zu Beginn der Saison hat man schon gemerkt, dass sich der Umgang mit den Schiedsrichtern verbessert hat.» Das Instrument wurde von den Unparteiischen jedoch definitiv nicht konsequent genug genutzt, ist Kautzmanns Eindruck. «Jetzt ist es wieder so wie früher. Wenn das wirklich etwas bringen soll, dann braucht es Erziehung und Kontinuität!»
Dennoch unterstreicht der 32-jährige Trainer, dass diese Regel ihre Berechtigung hat, denn sie könne auch für die Mannschaften und für die Qualität des Spiels ein Pluspunkt sein: «Man verliert mit den Diskussionen den Fokus auf das Spiel, das nimmt einem dann auch die Konzentration auf das Wesentliche!», und Kautzmann bezieht da durchaus das Coaching mit ein, das leidet, wenn er sich als Trainer mehr mit den Schiedsrichterentscheidungen als mit der Taktik befasst. Denn zu den Diskussionen auf dem Platz hat er eine klare Position, auch wenn er einräumt, sich selbst hier auch nicht immer ideal zu verhalten: «Das ist eine Unsitte im Fußball! Hier wäre mehr Respekt gegenüber den Schiedsrichtern wünschenswert. Sie müssen das aber auch über eine konsequentere Anwendung der Regeln einfordern!» Kautzmann verweist darauf, dass dies bei anderen Sportarten, im Handball etwa, auch funktioniere.
Dem hält Ronny Zimmermann allerdings entgegen: «Es ist schwierig, Sportarten zu vergleichen!» Im Fußball könnte eine Szene ein Spiel entscheiden, während beim Handball mehr Tore fallen, kritische Entscheidungen daher eventuell nicht so gravierend sind. Zudem geht es in anderen Sportarten eben schneller weiter, ist gar keine Zeit zum Diskutieren. Aber warum funktioniert beispielsweise die Kommunikation im Frauenfußball zielgerichteter und weniger aggressiv? Wird hier generell weniger geredet, mehr gespielt, die Rolle des Schiedsrichters mehr wertgeschätzt? «Da können sich die Männer etwas von den Frauen abschneiden!», räumt der Rechtsanwalt und Präsident des bfv ein.
Ein anderer Aspekt, der den durchschlagenden Erfolg der Kapitänsregel reduzierte, war – so Zimmermann – auch die rasche Einführung. Während dies bei einem Turnier wie der EM mit einer begrenzten Anzahl von Teams und Unparteiischen schneller möglich ist, dauert es deutlich länger, bis die entsprechenden Erläuterungen und Fortbildungen bis in die untersten Ligen durchgesickert sind.
Wie sehen die Schiedsrichter die Neuerung?
«Wir hatten gar keine großen Erwartungen. Die Europameisterschaft hat uns aber ein wenig darauf vorbereitet, wie das ablaufen kann. Wir Schiris haben gesehen, dass wir einen neuen Rahmen haben, den wir nutzen können, um dafür zu sorgen, dass das Spiel noch geordneter über die Bühne geht und wir kritische Szenen gut und konstruktiv erklären können. Das hat sich gut etabliert!», erklärt Timo Bugglin. Der Regionalliga-Schiedsrichter zeigt auf, was in der Spielpraxis mit der neuen Regelung nun stressfreier abläuft: «In strittigen Situationen und bei kritischen Entscheidungen, wie Strafstößen oder Roten Karten, haben wir nun die Gelegenheit, kurz die Hintergründe unserer Entscheidungen darzulegen. Wenn vier oder fünf Spieler auf einen zurennen, kommt man erst gar nicht in eine konstruktive Kommunikation.»
Schiedsrichter haben das auch früher immer schon gemacht, um zu signalisieren, dass Abstand gehalten werden soll, jetzt steht aber hinter der ausgestreckten Hand eine klare Bedeutung und Konsequenz. So oft ist Bugglin das in dieser Saison aber gar nicht passiert, dass er seinen Arm ausstrecken musste, um damit zu signalisieren, dass nun alle außer den Spielführern einen Mindestabstand von vier Metern einhalten sollen. Doch der Unparteiische, der für den TuS Binzen pfeift, sieht es bereits als positiv für den Spielverlauf, dass alle Beteiligten wissen, dass es dieses Instrument mit den entsprechenden Sanktionen gibt. «Das ist ein gutes Werkzeug, das wir jetzt anwenden können und ich habe das Gefühl, dass das auch von den Spielern gern angenommen wird!»
Damit hat sich dann aber auch die Rolle des Spielführers erweitert. «Man ist fast in jeder Szene involviert, um mit dem Schiri zu sprechen», so etwa Christian Günter vom SC Freiburg, der sich nun mehr gefordert sieht und damit auch mehr Laufmeter im Spiel absolvieren muss. Denn, so der langjährige SC-Spielführer: «Früher gab es Situationen, da war dann eben ein anderer Spieler beim Schiri, dann bin ich nicht extra noch dazu. Mittlerweile läuft die Kommunikation vorwiegend zwischen dem Schiedsrichter und dem Kapitän.» Sein persönliches Fazit: «Das hat sich für mich positiv ausgewirkt, ich bin ruhiger und gehe dann eben auch mit einer gewissen Ruhe zum Schiri.» Über die Rolle des Spielführers hinaus sieht der Freiburger Profi die Neuerung durchweg positiv: «Gegenüber dem Schiedsrichter wird nicht mehr so viel gestikuliert, nicht mehr so viel auf ihn zugesprintet. Jeder ist nun vorgewarnt und so ist das für den Schiri deutlich angenehmer. Man muss sich als Spieler mehr zurückhalten – das ist bisher sehr positiv.»
Unterbrechungen verkürzen, Netto-Spielzeit steigern
Durch die neue Regelung soll eine zielgerichtete Information der Mannschaften durch schnelle und direkte Kommunikation ermöglicht werden – dank klarer Strukturen und Verhaltensvorgaben für alle Beteiligten. Mehr Transparenz auf dem Spielfeld erhöht die Akzeptanz der Entscheidung, heißt es beim DFB. «Nach einer Entscheidung mit potenziell spielentscheidendem Charakter und möglichem Informationsbedarf zeigt der Schiedsrichter mit waagerecht ausgestrecktem Arm an, dass die Spieler auf einer Mindestdistanz von vier Metern bleiben sollen», erklärt der Verband die Regel. Nur der Teamkapitän darf sich dann nähern und den Referee ansprechen. Verstößt ein Spieler gegen die Weisung des Schiedsrichters, wird er mit der Gelben Karte verwarnt. Dass der Unparteiische seine Sichtweise nur noch dem Kapitän erklärt und nicht mehr mit allen Spielern diskutiert, verkürze die Unterbrechungen und steigere die Netto-Spielzeit.
Der Kapitänsdialog beschreibt dabei die Art und Weise, wie die Spielführer mit dem Schiedsrichter reden dürfen. Und natürlich hat sich auch der Kapitän dabei respektvoll zu verhalten. Geht er mit seinem Verhalten über das «zulässige Nachfragen» hinaus, meckert oder gestikuliert übertrieben, so kann er verwarnt werden. Für die neue Kapitänsregel gibt es jedoch genau eine Ausnahme: Wenn der Torwart die Kapitänsrolle innehat, wird vor dem Spiel ein Feldspieler bestimmt, der sich an den Schiedsrichter wenden darf. Und: Tritt die Kapitänsregel in Kraft, betrifft das auch die Coaching-Zone. Hier darf dann nur der ranghöchste Trainer mit dem Schiedsrichter oder den Assistenten bzw. mit dem 4. Offiziellen sprechen.
Die Neuregelung bedeutet aber nicht, dass der Unparteiische nun nur noch mit den Spielführern reden darf. Das IFAB weist in seiner Erklärung der Regel ausdrücklich darauf hin, dass «normale Interaktionen zwischen Spielern und dem Schiedsrichter erlaubt und wichtig» bleiben und der Schiedsrichter wichtige Entscheidungen auch den involvierten Spielern erklären kann und soll.
Fazit: Funktionäre, Spieler und Spielführer, Trainer und Schiedsrichter sehen in der Kapitänsregel eine durchaus gelungene Neuerung, doch mehr Nachhaltigkeit wird gewünscht und, wie es DFB-Vize Ronny Zimmermann beschreibt: «Es ist noch Luft nach oben!», denn die Regel muss erst richtig bis in die unteren Klassen umgesetzt werden. |