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Von Jürgen Rössler

Die Mischung macht’s

Mit «Multikulti» doppelt in die Oberliga

von Jürgen Rössler | «Ich bin stolz, Türke zu sein, aber ich bin froh, die deutsche Mentalität zu haben!», sagt einer, der es im Fußball wahrlich geschafft hat – Ali Günes. Vom TuS Bräunlingen über den FC 08 Villingen ging es für den talentierten und ehrgeizigen Spieler zum Nachwuchs des SC Freiburg, wo seine Trainer Christian Streich in der Jugend und Volker Finke bei den Profis hießen. Mit 21 Jahren zog es das Talent weiter in das für ihn völlig unbekannte Istanbul, wo er für die Platzhirsche Fenerbahçe und Beşiktaş spielte und es bis in den Kader der türkischen Nationalmannschaft brachte. Eine beeindruckende Spielerkarriere, zu der Günes selbst sagt: «Mit einem starken Willen kann es jeder schaffen – ob mit oder ohne Migrationshintergrund. Denn Wille und Ehrgeiz setzen sich durch!» 


Weg von den südländischen Dribbelkönigen

Doch seinen jüngsten Erfolg erzielte er von der Trainerbank aus – zunächst der Aufstieg des Türk. SV Singen in der Saison 2023/24 von der Landes- in die Verbandsliga Südbaden, wo zuvor noch kein «Club mit Migrationshintergrund» vertreten war, und dann, nach einer kuriosen und überaus spannenden Aufstiegsrunde der Verbandsliga-Vizemeister, der Durchmarsch in die Oberliga. Dort traf das Team aus Singen gleich am ersten Spieltag der Oberligasaison 2024/25 auf einen Mitaufsteiger, auf Türkspor Neckarsulm, den württembergischen Verbandsligameister. «Das war ein historischer Aufstieg für uns!», erklärt Cumali Ardin, 2. Vorsitzender beim 1969 gegründeten Club. Und auch Ramazan Ates, 1. Vorsitzender der Singener, unterstreicht: «Erstmals zwei Vereine mit türkischen Wurzeln in der Oberliga und dann gleich ein türkisches Derby – das freut uns sehr!» 

Wer bei dieser Konstellation – zwei Teams mit südländisch temperamentvollen Spielern und hochemotionalem, fanatischem Anhang – eine Art «Risikospiel» erwartete, der wurde enttäuscht. Beide Teams agierten diszipliniert, zeigten sich entschlossen, aber respektvoll in den Zweikämpfen, sodass Schiedsrichter Raphael Kastner ein leichtes Spiel hatte, lediglich drei Mal Gelb und einmal Gelb-Rot zeigen musste. Bei beiden Mannschaften sind die sportlichen Erfolge das Resultat eines Reifeprozesses. Denn was Ali Günes als seine «deutsche Mentalität» bezeichnet, also Disziplin, Ehrgeiz und Pünktlichkeit, das sei, so Günes, ganz grundsätzlich die Basis fürs Weiterkommen, ob als Spieler oder als Team. Diese Wende zu «deutschen Tugenden» hatte bereits Günes-Vorgänger Fabian Wilhelmsen beim Team vom Hohentwiel auf den Weg gebracht. Statt wie früher immer wieder endlos mit dem Schiedsrichter zu diskutieren, wurde Fußball gespielt – mit Erfolg.

Wilhelmsen führte den Türk. SV Singen in die Landesliga, wo 2023 der ehemalige Profi Ali Günes übernahm. «Für den Spieler verläuft eine Partie zum Großteil ohne Ball, das musste ich meinem Team erst mal klarmachen. Wir hatten einen klaren Matchplan, den jeder befolgen musste!», so Günes. Also weg von den südländischen Dribbelkönigen hin zu einer klaren, durchaus auch deutsch geprägten Spielkultur: «Mit elf Messis wird man nicht Weltmeister, mit elf Thomas Müllers schon!», so Günes.  


Spielgelbild der gesellschaftlichen Situation 

Sicherlich war das tempo- und torreiche Oberligaspiel, das «türkische Derby», eine Werbung für den regionalen Fußball (Neckarsulm siegte nach 0:2-Rückstand noch mit 4:2), aber kann das Konstrukt «Club mit Migrationshintergrund», das es nun ja erstmals und das gleich doppelt bis in die Oberliga geschafft hat, dieses Niveau auch langfristig halten? Man erinnert sich an den Türkgücü München, der es 2020 bis in die 3. Liga geschafft hat, nun aber wieder fünftklassig unterwegs ist.

«Dieser Erfolg spiegelt die gesellschaftliche Situa­tion wider. Vereine mit Migrationshintergrund werden es noch mehrfach nach oben schaffen», sagt Cumali Ardin und ist sich sicher, dass der Erfolg keine sportliche Eintagsfliege wird. Fakt sei aber auch, so der Neckarsulmer Funktionär, dass die Mannschaft, die sich auch aus Spielern aus Bosnien-Herzegowina, Italien, Rumänien, Kroatien, Spanien oder Deutschland zusammensetzt, eher ein Spiegelbild der Gesellschaft ist: «Wir haben lediglich vier türkischstämmige Spieler im 22-köpfigen Kader. Unser komplettes Trainerteam ist deutsch. Und alle arbeiten erfolgreich zusammen – das ist gelebte Integration, die hier auf dem Rasen stattfindet. Wir leben das vor!»


«Brutal schwer, junge deutsche Kicker zu bekommen»

Auf der anderen Seite basiert der sportliche Erfolg oft auch auf der finanziellen Unterstützung durch solvente Geschäftsleute mit Migrationshintergrund. Das viel zitierte Argument «Geld» spielt daher bei Neuverpflichtungen auch eine Rolle, dennoch stieß Ali Günes auf unerwartete Grenzen: Der Coach berichtet von Spielern, die absagten, weil sie ihrem Umfeld nicht erklären konnten oder wollten, dass sie zu einem «türkischen Verein» wechseln. «Ich bin erstaunt, wenn man im 21. Jahrhundert immer noch auf derart festsitzende Vorurteile trifft – dabei könnten Menschen hier ein Zeichen setzen! Ich freue mich jedenfalls, wenn ich viel Multikulti in der Mannschaft habe, und ich bin stolz, dass wir es geschafft haben, einige deutsche Spieler zu überzeugen», so Günes, der in diesem Zusammenhang von Erfahrungen aus seiner Profizeit berichtet, als er von Mitspielern mit anderen Kulturen und Religionen profitierte. Und auch Vorgänger Wilhelmsen bestätigt: «Wir wollten stets Spieler aus der Region einbauen. Aber es war in Singen immer brutal schwer, junge deutsche Kicker zu bekommen.»

Allerdings ist der Ruf dieser Clubs, die ihre Wurzeln in den 60er-Jahren haben, vielfach schlecht. Mit der Anwerbung von Gastarbeitern und deren Wunsch, ihre Freizeit gemeinsam zu gestalten, entstanden neue Vereine, denen dann oft überbordendes Temperament bzw. eine «kurze emotionale Zündschnur» zugeschrieben wurde. Eine Studie der Leibniz Universität Hannover im Amateurfußball besagt: «Je schwerwiegender der Straftatbestand, desto häufiger sind Spieler beteiligt, die nicht deutscher Abstammung sind. Bei deutschen Spielern sind die Opfer meist andere Spieler, bei Spielern mit Migrationshintergrund richten sich die Gewalttaten häufiger gegen Schiedsrichter.» 

Auch das eine Einsicht, die sowohl bei Spielern als auch bei Fans mit Migrationshintergrund noch wachsen muss: Nicht jeder Pfiff des Unparteiischen gegen das eigene Team ist ein ausländerfeindlicher Akt! Auf der anderen Seite spricht Wilhelmsen auch von «fremdschämen», wenn er sich an beleidigende und ausländerfeindliche Zwischenrufe bei Spielen erinnert. Von Zuschauern und gegnerischen Mannschaften. Dass es jedoch mit zunehmender Spielklasse durchaus besser wird, zeigt die Tatsache, dass Türkspor Neckarsulm in der vergangenen Saison in der Fairplay-Wertung der Verbandsliga Württemberg immerhin Vizemeister wurde und nur einmal ein Spieler vorzeitig das Feld verlassen musste.


Lernen, selbstkritisch zu sein

Bei Clubs mit Migrationshintergrund sind die emotionalen Ausschläge einfach extremer, da jubeln Ordner schon mal auf dem Feld bei einem wichtigen Tor mit und nach dem Abpfiff sind die Schulterklopfer im Club und in der Familie schnell zur Stelle. Ein Fehler, wie Günes beobachtet hat: «Man muss sehr selbstkritisch sein. Das ist aber der Nachteil unserer Kultur – wir zweifeln nicht genug an uns.» Er selbst hat das in seiner Familie anders erlebt: «Ich hatte einen Vater, der mich auch kritisierte. Und das hat mich angespornt.»

Beim Türk. SV Singen setzt man jedenfalls weiter auf «Multikulti», wenn auch etwas unstet: Für Günes, der nach zwei Jahren als TSV-Trainer pausieren möchte, übernahm der Österreich-Brasilianer Christian Mendes. In der vergangenen Spielzeit hat der 52-Jährige im Tor maßgeblich zum Aufstieg beigetragen, wurde jedoch nach den ersten beiden Oberligaspielen ohne Punkt durch Engin Özdemir ersetzt, der in seiner Spielerlaufbahn u. a. für den 1. FSV Mainz 05 aktiv war … | Jürgen Rössler, Konstanz