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Die Rolle von Sporteltern im Nachwuchsbereich

Komplett fremdbestimmt – die Rolle von Sporteltern im Nachwuchsbereich

Johannes Seemüller im Gespräch mit Achim Frommann | Deutschlands Nationaltorhüterin, die Göppingerin Ann-Katrin Berger, hat eine enge Beziehung zu ihrem Großvater Herbert. Der 92-Jährige war bei einigen EM-Spielen in der Schweiz dabei. Selina Cercis Unterarm ziert ein Tattoo, das für die Familie der Hoffenheimer Stürmerin steht. Kapitänin Giulia Gwinn betont stets ihre Dankbarkeit gegenüber ihrer Familie, die «immer alles gegeben» habe. Ihre Brüder seien allerdings «schon ein bisschen eifersüchtig» gewesen, «weil meine Eltern so viel in mich investiert haben und sie zurückstecken mussten», erklärt die gebürtige Tettnangerin. Der Familie kommt im gesamten Sport eine große Bedeutung zu – nicht nur bei den Fußball-Frauen.

Als sich Giulia Gwinn gleich im ersten EM-Spiel verletzte, war nicht nur das DFB-Team schockiert. Auch die Familie ist in solchen Situationen immer betroffen. Das weiß Achim Frommann aus eigener Erfahrung. Sein Sohn Constantin, Lebensgefährte von Giulia Gwinn, war Torwart beim SC Freiburg. Seine Sportkarriere bestimmte den Takt des Familienlebens. Achim Frommann gibt inzwischen seine Erfahrungen mit der Agentur «Deutsche Sporteltern» an andere Familien weiter.

Herr Frommann, Ihr Sohn Constantin und DFB-Kapitänin Giulia Gwinn sind seit vielen Jahren ein Paar. Sie fiel nach ihrer Verletzung für den Rest des Turniers aus. Wie wichtig ist in solchen Situationen die Familie?
Als Mutter oder Vater kannst du deinem Kind immer sagen: Wenn was ist, dann komm zu uns – im Falle von Giulia an den Bodensee. Giulia ist bei ihrer Familie, ihren Eltern und auch bei unserem Sohn sehr gut aufgehoben. Wir selbst haben solche Verletzungssituationen bei Constantin miterlebt bis dahin, dass er seine Karriere wegen irreparabler Hüftprobleme bereits mit 24 beenden musste. Es berührt dich als Elternteil am meisten, wenn deinen Kindern Dinge passieren, bei denen du machtlos bist. Das ist noch mal viel emotionaler, als wenn es dir selbst passiert. 

Sie haben drei erwachsene Kinder: Maximilian, Constantin und Emma. Ihre zwei Jungs haben beide gekickt. Welche Fußball-Idole hatten sie?
Maximilian hatte damals Ronaldinho als Idol. Con­stantin als Torwart bewunderte Oliver Kahn. Er war 2006 bei dessen Abschiedsspiel in München und hat wahrscheinlich geträumt, selbst mal da unten auf dem Rasen zu stehen.

Die jungen Nachwuchs-Fußballer wollen oft auch so herumlaufen wie ihre Idole – in den neuesten Schuhmodellen und Trikots. Sollten Eltern hier jeden Trend mitmachen?
Bei den Trainingssachen im Nachwuchsleistungssport muss man wissen, dass ein Spieler pro Saison drei bis vier Paar Fußballschuhe verschleißt. Da sind dann schnell 1000 Euro weg. Bei Fanartikeln sollte jede Familie für sich entscheiden, ob sie jedem Trend hinterherhechelt …

Junge Fußballer eifern ihren Helden auch beim Torjubel oder im Umgang mit Gegenspielern oder Schiedsrichtern nach. Wie sollten Eltern damit umgehen?
Es ist eine wichtige erzieherische Aufgabe, darauf zu achten, dass die Umgangsformen respektvoll sind und bleiben. Das betrifft Mitspieler, Gegenspieler, Fans, Trainer oder Schiedsrichter. Für die meisten Jugendlichen ist das erst mal gar kein Problem. Allerdings kommen von außen Sprüche wie «Sei mal härter» oder «Lass dir nicht alles gefallen». Hier sollten sich Eltern oder Trainer ihrer Verantwortung bewusst sein. Ahmen junge Kicker den Ronaldo-Tor­jubel nach, ist die Fallhöhe umso größer, wenn sie merken, dass es nicht ganz zum Ronaldo reicht. Man kann die Jungs durchaus darauf hinweisen, dass sie einen eigenen Torjubel kreieren dürfen, wichtiger ist aber, zuerst die Basics im Fußball zu lernen.

Ihr Sohn Constantin hat als Torwart den Weg zum Fußballprofi geschafft: Training, Lehrgänge, Spiele, NLZ – alles war verbunden mit Erfolgsdruck. Wie sehr dreht sich das Familiengeschehen um dieses eine Kind, das in den Profisport drängt?
Es dreht sich fast alles darum. Man betritt diese Welt des Leistungssports in dem Moment, in dem ein Kind gescoutet wird. Dann gerät auch das Familiensystem komplett aus dem Gleichgewicht. An diesem Punkt müssen Eltern bereits mit der Arbeit beginnen. Es gilt, den Alltag zu organisieren oder auch die Frage zu klären, wie man das finanziell gestemmt bekommt. Das ist sehr herausfordernd, und die meisten Eltern sind darauf nicht vorbereitet. Ganz zu schweigen vom eigenen Leben: Auch wir Eltern haben ein Privatleben und einen Beruf. Das muss man alles zusammenbringen. 

Giulia Gwinn sprach von der Eifersucht ihrer Brüder. Wie ging es in Ihrer Familie den beiden Geschwistern von Constantin? Die wollten von Ihren Eltern auch gesehen werden …
Richtig. Alle meine Kinder hatten Hobbys, mussten zur Schule und benötigten auch Fahrdienste. Unsere Tochter Emma war noch klein, als ihr Bruder damals mit dem Leistungssport anfing. Sie musste immer mit auf die Fußballplätze – ob unter der Woche oder am Wochenende. Auch für Constantins zwei Jahre älteren Bruder Maximilian war es eine echte Herausforderung. Er spielte damals auch Fußball, wenn auch nicht so hochklassig. Da war ich als Vater beim Spiel des einen, meine Frau beim Spiel des anderen. Maximilian war aber nie neidisch. 

Hatte Maximilian nie den großen Profi-Traum wie sein Bruder?
Als er 15 war, boten wir ihm an, ihn zu einem ambi­tionierten Amateurverein zu bringen. Er verzichtete aber, um die Familie vor Überlastung zu schützen, obwohl ihn sein Talent ebenfalls weit hätte bringen können. Eine selbstlose Entscheidung für seinen Bruder und die Familie – die mich stolz macht. 

Das hört sich fast so an, als ob die Eltern durch die Ambitionen ihrer Kinder und die Vorgaben des Leistungssportsystems fremdbestimmt sind.
Das ist tatsächlich oft so. Der Leistungssport macht die Vorgaben. Bei Trainingsplänen und Turnieren gibt es keine Spielräume. Auch nicht wenn’s um die Schule geht. Teilweise musste Constantin die Klasse wechseln, um den Stoff mitverfolgen zu können. 

Auch die Wochenenden gehören dem Sport?
Ja, die Wochenenden sind für Jahre im Voraus ausgebucht, wenn man ein Kind auf dem Weg in den Leistungssport begleitet. Freunde haben uns damals auch gespiegelt: «Schade, irgendwie habt ihr nicht mehr Zeit für uns gehabt.» 

In welche Fallen können Eltern tappen?
Der Klassiker ist die Übermotivation. Also Eltern, die sich zu engagiert zeigen und gar nicht merken, dass sie den Weg des Kindes zu ihrem eigenen machen. Wenn der Papa beispielsweise – der früher selbst Fußball gespielt hat, es aber nicht zum Profi gebracht hat – seine Ambitionen auf die Tochter oder den Sohn projiziert. Ein anderes Thema ist es, überengagiert zu sein. Eltern sollten ihren Kindern das abnehmen, was ihren Alltag erschwert. Aber die Talente sollten – auch wenn sie eine 60-Stunden-Woche haben – die Sporttasche selbst packen. Ziel ist immer noch, die Kinder in ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Denn der Leistungssport endet irgendwann … Zudem gibt es auch die Eltern, die mit dem Thema Fußball gar nicht so viel anfangen können. Die sagen: «Okay, wenn du so gut bist, dann mach das mal. Schau halt, wie du das hinbekommst.» Aber auch das geht nicht. Ein Kind hat in aller Regel keine Chance, den langen und teilweise beschwerlichen Weg des Leistungssports zu durchlaufen, wenn die Eltern und letztlich auch die Geschwister nicht dahinterstehen.

Constantin wechselte mit 15 ins Internat des SC Freiburg. Wie waren Ihre Erfahrungen als Eltern mit dem NLZ?
Constantin war damals einer von 16 Spielern im Internat. Der pädagogische Leiter war mit uns immer im Austausch. Es muss auch mal sein, dass junge Männer gewisse Grenzen außerhalb des Fußballs austesten. Seine Freundin durfte damals aber nicht bei ihm übernachten … Constantin gehörte damals zu den besonders geförderten Spielern. Dass andere aus der Mannschaft als Talente «zweiter Klasse» eingestuft wurden, obwohl die Ergänzungsspieler das Gleiche zu leisten hatten, wurde mir erst viel später bewusst. Heute hört man von vielen Eltern den Appell an die Verantwortlichen in den NLZ: «Kümmert euch um alle, nicht nur um eure ‹Roh­diamanten›. Eine Fußballmannschaft besteht aus 20 oder 25 Jungs.»

In den NLZ werden Jugendliche nach ihren Leistungen bewertet und ggf. «aussortiert». Das ist eine sehr sensible Angelegenheit für Spieler und Eltern. Welche Erfahrungen haben Sie gemacht? 
Das Ausscheiden von Spielern wird in manchen NLZ noch unzureichend moderiert. Spieler werden manchmal entlassen, ohne die genauen Gründe zu erfahren. Das ist nicht gut für die Entwicklung des Selbstbewusstseins der Jugendlichen. Auch das Setting für ein «Entlassungsgespräch» ist oft ungenügend. Wenn ein Spieler geholt wird, wird ihm der rote Teppich ausgerollt, aber wenn er gehen muss, dann meist durch die Hintertür. Außerdem wird der Zeitpunkt dieses Gesprächs vom Verein oft sehr lange hinausgezögert, damit der Spieler für den Rest der Saison motiviert bleibt. Für den Spieler ergibt sich dann jedoch das Problem, dass er kaum mehr in einem anderen NLZ unterkommen kann. 

Wie kann man als Familie damit umgehen?
Den Sporteltern muss grundsätzlich klar sein: Es kann jederzeit Schluss sein. Es gibt keine Garantie, dass ein Nachwuchsspieler den Sprung in den Profibereich schafft. Eltern können immer nur versuchen, bodenständig zu bleiben. Sie sollten dem Kind keinen Druck machen und sich dabei im Klaren sein, dass das Leben weitergeht, so wie vor dem Eintritt in die Talentförderung. Das ist aber oft nicht leicht, da die Sporteltern selbst auch jahrelang Teil dieses Systems waren. 

Kürzlich gab es einen «Brandbrief» einiger Fußballeltern am NLZ in Unterhaching. Darin wurden die Verantwortlichen hart kritisiert. Gefährden Eltern, die solche Kritik üben, die sportliche Karriere ihres Kindes?
Das sollte zwar niemals sein, aber die Angst, dass das so ist, spielt bei den Eltern dennoch eine große Rolle. Man traut sich nicht Kritik zu äußern, oder vielleicht mal ein freies Wochenende, z. B. wegen einer wichtigen Familienfeier, für sein Kind einzufordern.

Seit 2023 sind Profivereine verpflichtet, ein Elternmanagement an ihren NLZ zu betreiben. Wie funktioniert das? 
Leider ist es sehr schwammig formuliert, was Elternmanagement tatsächlich meint. Der DFB überlässt den NLZ, wie das umgesetzt wird. Letztlich ist jedoch die Haltung und Kultur, die in einem NLZ gepflegt wird, entscheidend. Also, ob es neben der sportlichen auch um die persönliche Entwicklung des jungen Menschen geht. Und zu letzterer gehört immer die Familie dazu. |