Julius Raisch und der TV Nellingen
Inklusion als Selbstverständlichkeit
von Arne Bauer und Fabian Diehr | Julius Raisch liebt Fußball. Auf dem Platz ist er Spieler, Co-Trainer, Motivator und Freund – und mittendrin in einem Team, in dem Inklusion nicht bloß ein Wort ist, sondern ganz normaler Alltag.
Wenn Julius Raisch den Sportplatz betritt, ist er sofort mitten im Geschehen. Fußball bedeutet für den 19-Jährigen Leidenschaft, Gemeinschaft und Motivation – und all das lebt er bei seinem Verein, dem TV Nellingen, in vollen Zügen aus. Julius hat Trisomie 21 – auch bekannt als Down-Syndrom –, aber diese Tatsache spielt hier kaum eine Rolle. Er ist aktiver Spieler, Co-Trainer des Kreisligisten und vor allem eines: in der Mannschaft und den Vereinsstrukturen voll integriert und akzeptiert.
Mit dem TVN / FCE United hat der TV Nellingen gemeinsam mit dem FC Esslingen 2018 eine eigene Mannschaft für Spielerinnen und Spieler mit und ohne Handicap ins Leben gerufen, der Einzugsbereich reicht über Nellingen, Esslingen, Berkheim, Denkendorf bis nach Stuttgart oder auch Vaihingen. Hier kicken alle gemeinsam. Spaß, Inklusion, Zusammenhalt und Weiterentwicklung sind ausdrückliche Ziele des Teams. Trainer der Mannschaft sind Michael Maier und Julius’ Vater Bernd. Einmal pro Woche findet das Training auf dem Gelände des TV Nellingen statt, außerdem nimmt die Mannschaft regelmäßig an Wettbewerben teil. Langfristig wird die Etablierung einer «inklusiven Liga» angestrebt, weswegen der TVN / FCE United hofft, deutschlandweit noch weitere Vereine zur Gründung ähnlicher Teams motivieren zu können. 2022 wurde bereits die Unified-Liga des wfv ins Leben gerufen. In allen dort teilnehmenden Mannschaften spielen Beeinträchtigte und Nichtbeeinträchtigte gemeinsam.
Ein Spiel in der Unified-Liga dauert zweimal 20 Minuten. Dabei steht ein faires, sportliches Miteinander im Vordergrund. Der Verhaltenskodex in den Spielregeln legt fest, «dass nicht ein übermotivierter Leistungswille im Vordergrund steht, sondern das gemeinsame Erleben der Freude am Fußballspiel». Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, sollte man meinen. Das sieht auch Julius so.
Julius, was begeistert dich am Fußball?
Die im Verein sind meine Freunde. Und ich kann gut kicken. Am meisten Spaß macht es mir, wenn viele Tore fallen. In der Unified-Liga haben wir in Musberg gespielt, dann in Berkheim drüben. Und bald haben wir ein Spiel in Weinstadt.
Welche Position spielst du?
Ich spiele alles – außer im Tor. Am liebsten aber im Sturm.
Freundschaft und Teamgeist
Die Leidenschaft für den Fußball hat Julius von seinem Vater, der froh darüber ist, dass er die Interessen seines Sohnes in entsprechende Bahnen lenken konnte. Schon als kleiner Junge kickte Julius mit seinem Bruder Jakob – der heute beim TV Nellingen in der A-Jugend spielt –, konnte aber nie einer regulären Jugendmannschaft beitreten. Erst mit der Gründung des TVN / FCE United wurde ein Umfeld geschaffen, in dem Julius regelmäßig mit anderen trainieren und spielen konnte.
Doch nicht nur beim United-Team, sondern auch generell gehört Julius beim TV Nellingen ganz selbstverständlich dazu. Auf dem Sportgelände kennen ihn alle und akzeptieren ihn so, wie er ist. Mehr noch: Zusätzlich zu seiner Rolle als Spieler in der Inklusionsmannschaft ist Julius auch Co-Trainer der 1. Mannschaft – als offiziell lizenzierter Trainer: Auf seinen Vorschlag hin hat der wfv einen Trainerlehrgang für Menschen mit Handicap eingerichtet, an dem Julius in der Sportschule Ruit mit Begeisterung teilgenommen hat.
Julius, wie war es denn beim Trainerlehrgang? Was hast du dort gelernt?
Da haben sie uns z. B. gezeigt, wie man dribbelt. Ich habe sogar meinen Papa ausgetrickst! Und am Schluss haben wir ein Turnier organisiert.
Kritisierst du deinen Bruder auch mal, wenn er schlecht spielt?
Ja. Aber er mich nicht – ich bin ja gut, ich bin Profi!
Wirst du manchmal auch laut?
Ja. Ich will, dass sie mir zuhören. Die müssen angreifen, verteidigen und im Spiel einfach hundert Prozent geben! Wenn mir etwas nicht passt, schreie ich schon mal herum. Bei einem Eigentor oder so.
Das Schöne ist, dass Julius überall akzeptiert wird – von den aktiven Trainern und von allen Mannschaften. Er ist bei den Begegnungen dabei, auch auswärts. Dann wird er von den Spielern mitgenommen. Vor der Partie hält er in der Kabine fast immer eine Ansprache, «eine richtige Motivationsrede», erklärt sein Vater.
Und auch die Kicker im Verein schätzen diesen Sachverhalt: Lukas Gentner, Mittelfeldspieler in der
1. Nellinger Mannschaft, kennt Julius sowohl auf dem Platz als auch abseits davon gut und war schon des Öfteren beim Training des United-Teams dabei. Der 22-Jährige hat ein freiwilliges soziales Jahr beim wfv absolviert. «Dort hatte ich die ganze Zeit über mit Personen mit Handicap zu tun und habe schon allein deswegen heute kaum Hemmungen im Umgang mit ihnen», berichtet er. Wann er Julius zum ersten Mal gesehen hat, kann Lukas gar nicht genau sagen. «Er rennt schon eine ganze Weile in Nellingen rum», erzählt er lachend. «Aber irgendwann war er immer mehr bei den Spielen dabei und von da an hat sich eine Freundschaft zwischen uns entwickelt.»
Lukas, was ist das Besondere an Julius?
Er ist ein ehrlicher Mensch, der die Dinge immer geradeheraus sagt. Mit seiner Meinung hält er nie hinterm Berg. Außerdem ist er ein sehr lebensfroher Mensch, der fast nie traurig ist. Er ist meistens sehr, sehr glücklich und man kann auch selbst gar nicht schlecht gelaunt sein, wenn man mit ihm unterwegs ist.
Und wie nehmt ihr im Team Julius wahr?
Er nimmt seine Aufgabe sehr ernst! Julius meldet sich immer schon am Vortag bei meinem Vater, dem Trainer der Aktiven, weil er von ihm die Kaderliste braucht. Wenn er sie bekommen hat, überlegt sich Julius die richtige Aufstellung und schreibt sie auf eine kleine Taktiktafel, die wir ihm zum Geburtstag geschenkt haben. Ein Foto davon schickt er dann als «Empfehlung» an meinen Vater, der dann prüft …
Und was kann Julius besonders gut?
Vor den Spielen peitscht er uns im Kreis immer ein. Das schätzen wir als Mannschaft tatsächlich sehr. Denn er findet immer die richtigen Worte, ist immer ehrlich und das, was er fühlt, kommt an! Für uns ist das inzwischen ein Ritual geworden, dass Julius uns aufs Spiel einstimmt.
Er interessiere sich für Taktik, sagt Julius, schreibe sich beim Anschauen von Spielen jedoch nichts auf, sondern merke sich alles. «Das habe ich alles im Kopf», erzählt er stolz. Jede Woche schaut er sich mehrere Fußballspiele an, auch die Spiele der A- und B-Jugend des TV Nellingen. Als großer Fan des VfB Stuttgart versucht er aber auch dort, bei allen Spielen dabei zu sein. Zusammen mit den Terminen für seine eigenen Spiele und Traineraufgaben ergibt dies jedes Wochenende einen großen logistischen Aufwand. Kann er mal bei einem Spiel seines eigenen Vereins nicht dabei sein, halten ihn seine Freunde per Live-Ticker über WhatsApp auf dem Laufenden – was aber natürlich nicht dasselbe ist, wie selbst vor Ort mitzufiebern.
Julius, hast du noch andere Lieblingsvereine außer den VfB?
Ja, Düsseldorf und Nürnberg, weil wir dort Verwandte haben.
Gibt es internationale Vereine, die du mal spielen sehen möchtest?
Ich will zu Dinamo Zagreb! Auch dort kennen wir jemanden, der in der Stadt wohnt. Die Nationalmannschaften, für die ich bin, sind Deutschland, Österreich und Kroatien.
Ein Beispiel für gelebte Inklusion
Aber Fußball ist nicht das einzige Hobby des umtriebigen Jugendlichen, der unter der Woche in den Neckartal-Werkstätten arbeitet. Ein weiteres ist die Musik. Julius geht gerne auf Konzerte – begeistern kann er sich dabei für eine große Bandbreite an Künstlern, von den Fantastischen 4 über Ikke Hüftgold bis hin zu AC/DC und den Toten Hosen, seinen Favoriten. Er macht auch selbst Musik: An der örtlichen Musikschule spielt er E-Bass in einer Band, zusammen mit anderen Menschen mit Handicap.
An sozialen Kontakten und Möglichkeiten, seine Freizeit zu gestalten, mangelt es Julius also nicht. Beim TV Nellingen sieht man die Schaffung eines inklusiven Umfelds, in dem Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen besser zusammenleben können, als eine Kernaufgabe an. Schließlich bringt gelebte Offenheit – im Sport und anderswo – Vorteile für alle Beteiligten und trägt zu einem respektvollen Zusammenleben und einem echten Miteinander bei. Das alles hat man beim TVN sehr vielen Leuten zu verdanken, die sich aktiv darum kümmern, erklärt Julius’ Vater.
Bernd, was macht das Vereinsumfeld für Julius so besonders?
Wir haben hier einfach wunderbare Bedingungen. Unser Trainer Thomas Gentner unterstützt das inklusive Konzept genauso wie die ganze Mannschaft. Sie alle haben Julius ins Herz geschlossen und z. B. zu seinem Geburtstag einen Kegelabend für ihn organisiert. Da konnte er vorher wochenlang nicht schlafen, so aufgeregt war er! Sie fahren auch mit ihm ins Stadion zum VfB. Da holen sie ihn ab und bringen ihn danach wieder heim. Das ist einfach toll!
Das Umfeld spielt natürlich eine große Rolle …
Ja, die Leute wollen Julius gern dabeihaben. Das ist toll. Und wenn die Mannschaft was mit ihm unternimmt, ist das für Julius ein Riesending …
Für ihr gemeinsames Engagement in diesem Bereich wurden der TV Nellingen und der FC Esslingen bereits mit der Sepp-Herberger-Urkunde und der Gerhard-Mayer-Vorfelder-Medaille ausgezeichnet. Julius und seine Familie sind für die offene, inklusive Atmosphäre im Verein dankbar. So unkompliziert wie hier wird Inklusion selten gelebt, obwohl es eigentlich selbstverständlich sein sollte. |