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Von Jochen Klingovsky

Schiedsrichter im Fokus

Respekt und Regelwerk

| Julian Nagelsmann ist, daran gibt es keine Zweifel, ein Top-Trainer. Weil er zudem beim erfolgreichsten deutschen Verein arbeitet, muss der Coach des FC Bayern damit leben, dass er nicht nur an Ergebnissen gemessen wird, sondern auch an seinen Worten. Und das geht nicht immer gut aus.

Nach einer umstrittenen Roten Karte in Mönchengladbach hatte Julian Nagelsmann zuletzt einen denkwürdigen Auftritt. Er beschimpfte erst Tobias Welz («Will der mich verarschen?») und dann das komplette Schiedsrichterteam («weichgespültes Pack»). Der FCB-Trainer entschuldigte sich hinter­her in den sozialen Medien und begründete seine Entgleisung mit den Emotionen, die zum Sport gehören. Vielleicht meinte es das DFB-Sportgericht auch deshalb gut mit ihm. Nagelsmann musste 50 000 Euro berappen, kam aber ohne Sperre davon.

Zugleich zeigt sein Fall klar auf, welche Sonderstellung die Protagonisten im Fußball für sich reklamieren. Denn auch im Basketball, Volleyball, Hockey, American Football oder Rugby, um nur ein paar Beispiele zu nennen, sind viele Emotionen im Spiel. Trotzdem werden dort die Referees nicht ständig beschimpft, und sie sehen sich auch nicht nach jedem umstrittenen Pfiff einer reklamierenden Meute gegenüber. Weshalb sich die Frage stellt, was der Fußball von anderen Sportarten lernen kann. Bei der Suche nach Antworten lohnt sich ein Blick auf den Handball.


Erziehung zum Fair Play

Das unfassbare Tempo des Spiels, die harten Zweikämpfe, der faire Umgang der Kontrahenten, dazu die Vielzahl der Treffer und Torhüter-Paraden – es gibt einige Dinge, die von der Handball-WM im Januar 2023 in Erinnerung bleiben werden. Der Respekt vor den Schiedsrichtern und die Akzeptanz der von den Unparteiischen getroffenen Entscheidungen gehören zwingend dazu. Meint auch Urs Meier, der bei zwei Fußball-Weltmeisterschaften gepfiffen hat. «Nicht nur im Handball, auch im Rugby oder American Football gibt es eine Erziehung zum Fair Play, die auffallend ist», sagt der frühere Weltklasseschiedsrichter und TV-Experte aus der Schweiz. «Im Fußball ist die Kultur eine ganz andere. Leider.» Doch ist das wirklich so?

Rückblick. Im WM-Finale standen nicht nur die dänischen und französischen Handballer im Fokus, sondern auch Gjorgji Nachevski und Slave Nikolov. Die Schiedsrichter aus Nordmazedonien hatten, das war unübersehbar, nicht ihren besten Tag. Und trotzdem gab es keine wilden Proteste, keine Rudelbildungen, keine aggressiven Trainer. Erst nach der 29:34-Pleite sagte Guillaume Gille, der französische Coach, dessen Team nicht gerade bevorteilt worden war: «Wir müssen die Qualität des Gegners anerkennen. Daneben gibt es ein wenig Frustration über ein paar Pfiffe gegen uns. Wir haben das Gefühl, dass einige davon ins Gewicht fielen.» Schönen Gruß an Julian Nagelsmann – so geht es auch!

Logisch, nicht immer ist die Sprache im Handball so kultiviert. Und Respekt trotzdem die Regel. Die Spieler attackieren sich hart, schonen weder sich selbst noch ihre Gegner. Aber mit den Schiedsrichtern wird nicht aufgeregt diskutiert, sie werden nicht angemeckert, nicht angegangen, nicht angeschrien. Dazu kommt: Schwalben oder andere Schauspieleinlagen sind eher selten, es gibt kein Vortäuschen von Verletzungen, nach Pfiffen wird der Ball weder blockiert noch weggeworfen, Zeitspiel von den Schiedsrichtern konsequent unterbunden. «Im Handball ist die Disziplin ausgeprägter als im Fußball», sagt Jürgen Rieber (Ostfildern), der 20 Jahre lang in der Handball-Bundesliga gepfiffen hat und nun einer von drei Lehrwarten im Deutschen Handballbund (DHB) ist. «Allerdings ist das Regelwerk dabei sehr hilfreich.»


Sieben anstatt drei «Patronen im Colt»

Im Handball haben die Unparteiischen vielfältige Sanktionsmöglichkeiten: Ermahnung, Gelbe Karte, bis zu drei Zeitstrafen pro Spieler, Rote Karte, Blaue Karte für Vergehen, die ein Disziplinarverfahren nach sich ziehen. «Wir haben von der Meckerei bis zur Tätlichkeit sieben Patronen im Colt», erklärt Jürgen Rieber, «ein Schiedsrichter im Fußball mit Ermahnung, Gelber Karte und Roter Karte, die anders als bei uns automatisch eine Unterzahl für den Rest des Spiels bedeutet, nur drei. Das ist schon ein Unterschied.» Findet auch Patrick Ittrich.

Der Fußball-Referee hat sich in der «FAZ» erstaunlich offen darüber geäußert, was ihm in der Bundesliga das Leben schwer macht («Das größte Problem ist das ewige Lamentieren») und was helfen würde. Er plädiert, analog zum Handball, für ein strafferes Regelwerk und mehr Möglichkeiten zur Bestrafung. «Du hast mich beschimpft? Kriegst du zehn Minuten Zeit zum Abkühlen. Da können wir uns viel vom Handball abgucken», erklärte Ittrich, der das Verhalten, das viele Fußballprofis zeigen, als «Mobbing of the Referee» bezeichnete. «Wie kann es sein, dass ich nach einer Entscheidung von zehn Mann angemacht werde? Von mir aus: Bam. Bam. Bam. Dreimal Rot oder Gelb-Rot. Dann spielen eben sieben gegen elf. Mir wäre das recht.»

Urs Meier fordert ebenfalls, bewährte Regelungen aus anderen Sportarten auf den Fußball zu übertragen. «Eine Zeitstrafe wäre unglaublich hilfreich, zumal die Gelbe Karte, bezogen auf die laufende Partie, ja keine schlimme Strafe ist», sagt der Experte. «Könnte der Schiedsrichter dagegen in der Schlussphase wegen einer Unsportlichkeit, Reklamierens oder Spielverzögerung eine zehnminütige Zeitstrafe aussprechen, würde sich viel verändern.» Sinnvoll wäre es aus Sicht von Meier auch, wie im Volleyball nur noch dem Kapitän zu erlauben, den Schiedsrichter anzusprechen. Und den Profis, die sich für eine Verletzung behandeln lassen (müssen), eine kurze Auszeit zu verordnen. «Hätten die vermeintlich Angeschlagenen eine Minute draußen zu bleiben, würde ganz sicher weniger geschauspielert werden.» Patrick Ittrich kann sich weitere Neuerungen vorstellen. Zum Beispiel, dass der Gegner nach einem taktischen Foul im Mittelfeld einen Freistoß 17 m vor dem Tor erhält: «Wie oft gäbe es dann solche Fouls noch?»


Zeitstrafe auch (wieder) im Amateurfußball? Saarland, Hessen und Bayern sagen «Ja!»

Doch nicht nur Schiedsrichter wie Patrick Ittrich oder Urs Meier machen sich Gedanken über Verbesserungsmöglichkeiten, die Verbände tun das auch – und das nicht nur im Profifußball. So haben die Landesverbände in Bayern, Hessen und im Saarland die bis 1991 geltende zehnminütige Zeitstrafe bei den Aktiven, die damals zugunsten der Gelb-Roten Karte abgeschafft wurde, wieder eingeführt. Möglich ist das laut DFB-Statuten bei den Männern bis zur sechst­höchsten Klasse, bei den Frauen bis zur vierthöchsten Liga. Die drei Fußballverbände in Baden-Württemberg gehen einen etwas anderen Weg.

In Württemberg gibt es zurzeit rund 4500 Schiedsrichterinnen und Schiedsrichter, in Baden und Südbaden pfeifen jeweils rund 1200 Unparteiische. Vor neun Jahren lag die Zahl in Baden-Württemberg insgesamt noch um 3200 höher. Damals startete der wfv die Schiedsrichter-Solidaritätsaktion «Bleib fair. Für Respekt und Toleranz im Fußball». Dafür wurden im gesamten Verbandsgebiet an zwei Spieltagen 130 000 blaue Karten an die Zuschauer verteilt – von Mannschaften zwischen Rottweil und Heidenheim. Doch noch immer haben die Unparteiischen einen enorm schweren Stand und erfahren viel zu wenig Respekt – bei Spielern, bei Trainern, bei Zuschauern.

Im Bezirk Hochrhein des Südbadischen Fußballverbands wird jährlich ein Treffen der Schiedsrichter mit den Trainern der Kreis- und Bezirksliga organisiert, bei dem sich beide Gruppierungen außerhalb eines Spiels kennenlernen. Ziel ist es, den Umgang miteinander auch in strittigen Spielsituationen grundsätzlich positiv anzugehen.

Um störende Einflüsse vom Spielfeldrand am besten schon im Keim zu ersticken, verpflichtet der Badische Fußballverband sowohl Heim- als auch Gastverein, jeweils einen Platzordnerobmann (POB) zu stellen. Beide haben den Auftrag, sich vor dem Spiel bei dem oder den Schiris vorzustellen und kritische Punkte wie eine besondere Rivalität oder eine belastete Vorgeschichte zweier Vereine zu besprechen. Während des Spiels sind die POB sichtbar am Spielfeldrand postiert und sollen situativ beruhigend oder deeskalierend auf Zuschauer einwirken.


Pilotprojekt «Stopp»: Gewaltprävention mit Fünf-Minuten-Spielpause

Um Emotionen aus dem Spiel nehmen, auf Rudel­bildungen sowie verbale Attacken auch von Zuschauern oder Funktionären reagieren, den Adre­nalinspiegel der Beteiligten senken und die Eska­lationsspirale anhalten zu können, haben die Unparteiischen seit Beginn der Rückrunde ein neues Hilfsmittel in der Spielleitung. In einem Pilotprojekt in den zwei wfv-Bezirken Donau/Iller und Riß besteht nun die Möglichkeit, eine Auszeit anzuordnen. Das Ganze steht unter dem Motto «Stopp» – aktive Gewaltprävention mit bis zu zwei Unter­brechungen von jeweils fünf Minuten. Die zweite Pause ist zugleich eine Art «letzte Warnung» – danach bleibt als finale Maßnahme nur noch der Spiel­abbruch.

Die Aktivitäten in Baden-Württemberg zeigen zweierlei: Es fehlt im Fußball nicht am Bewusstsein, dass die Schiedsrichter bei ihrem schwierigen Job unterstützt werden müssen. Und Spielraum für nötige Verbesserungen ist durchaus vorhanden. Eines allerdings wird nie zu ändern sein: Im Handball fällt Tor auf Tor, die Schiedsrichter haben enorm viele Entscheidungen zu treffen – folglich fällt jeder einzelne Pfiff weniger ins Gewicht. «Nach einem Spiel interessiert sich niemand mehr für den Siebenmeter oder die Zeitstrafe in der zwölften Minute. Im Fußball kann ein Strafstoß oder eine Rote Karte in der zwölften Minute das Spiel entscheiden», sagt der frühere Handball-Referee und Regelexperte Jürgen Rieber, «trotzdem würde ich mir auch im Fußball ein faireres Auftreten aller Beteiligten wünschen.» Respekt als Regel? Am besten ab dem nächsten Wochenende. |


Ein Kommentar und ein nachrichtlicher Text, die als Grundlage für diesen Beitrag dienten, sind ursprünglich online und gedruckt in der «Stuttgarter Zeitung» und in den «Stuttgarter Nachrichten» erschienen.


Hier gibt’s den «Drei-Stufen-Plan» der UEFA zur Deeskalation